Psychoaktive Zeichen – Volker Sauls Körperwechsler | Melanie Weidemüller, Köln, 2006

„…zwischen Seelenheil und Apokalypse“ vermutet der Untertitel der Ausstellung PSYCHO im Mönchengladbacher Kunstverein die vorgestellten Positionen. Die beiden Begriffe markieren entgegengesetzte Pole, ein Heilsversprechen einerseits und ein Untergangsszenario andererseits. Zwei Pole, zwischen denen sich eine Welt aufspannt, in der sich existenzielle (Psycho-)Dramen abzuspielen scheinen und letztlich jede „Position“ auf Sand gebaut ist. Volker Saul ist ein Künstler, dessen gewundene Linien die bipolare Logik durchkreuzen, wenn sie das Unentschiedene mit Entschiedenheit behaupten. Ihre Bedingung ist der Sand, auf dem wir bauen – aber doch immerhin bauen.

Dieses Prekäre wie Beharrende ist seinen frei flottierenden Linienformationen eingeschrieben, die den Betrachter locken, um ihn dann subtil ins Feld des Ungewissen zu entführen. Seine Skulpturen, Objekte, Zeichnungen, Wandarbeiten verstricken uns in ein Spiel zwischen Abstraktion und konkreter Lesbarkeit, in dem Linien und Kürzel unser Deutungsbegehren füttern und enttäuschen und so das Begehren selbst zum Thema machen. Er zeichne „den Moment, der zwischen den Interpretationen liegt“, hat Volker Saul kürzlich in einem Katalog-Interview bemerkt. In diesem Zwischenraum realisieren sich organische Gestalten und Formen, die nichts abbilden, sondern sich als real-existierende imaginäre Form behaupten. Ihre Existenz verdankt sich einem zeichnerischen Findungsprozess zwischen Kontrolle und Hingabe, in dem sich Zufälle, Unfälle und Findungen ereignen. Volker Saul zeichnet mit der Farbtube, direkt auf das Papier – eine distanzlose Übertragung, bei der die extrem scharf begrenzte, breite Linie jede feinste Bewegung sofort überdeutlich registriert, bei der Fluss und Geschwindigkeit der Bewegung über ihre Qualität entscheiden, so dass sich der Körper mit in die Linie einschreibt. „Arbeiten ist ein Zustand“, sagt Volker Saul, und: „Energie sieht man.“ Die energetische Linie ist ein charakteristisches Merkmal seiner Zeichnungen, die er auch monumentalisiert in große Wandarbeiten überträgt und dabei bewusst auf Raumsituationen reagiert.

Wenn Volker Sauls Arbeiten jetzt in der Ausstellung „Psycho“ und kurz darauf in einer Ausstellung zum Thema „Menschenbilder“ erscheinen, zeigt dies die jüngste Entwicklung seines Werkes. Anthropomorphe Figurationen und Versatzstücke haben sich in sein abstraktes Formenrepertoire eingeschlichen, um jetzt in der neuesten Serie von Zeichnungen als deutliches Sujet hervorzutreten: „Körperwechsler“. So lautet der Titel für Variationen einer aus drei Formen bestehenden Figuration, die zwei Körper, einen Kopf assoziieren lässt. Eine unwahrscheinliche Gestalt, die sich formal und inhaltlich sträubt. Körperwechsler? Volker Saul erklärt nicht, er steht auch vor einem Phänomen: „Am interessantesten sind für mich die, die wirklich nur einen Kopf haben, der hin- und herspringt. Wenn der Kopf zum linken Körper springt, dann wird das andere Teil zum Nicht-Körper, es entleert sich, und umgekehrt.“ Wahrnehmungspsychologisch handelt es sich um eine Kippfigur: ein schizophrenes Zeichen, das plötzliche, willentlich nicht zu kontrollierende Wahrnehmungswechsel provoziert. Ein Bild kollabiert, wenn das andere hervortritt, das wieder kollabiert. Wir springen zwischen zwei widersprüchlichen Interpretationen einer Figur, wollen Identität, den Widerspruch auflösen – was nun: A oder B? Ein logisches Problem, ein faszinierendes Wahrnehmungsspiel, ein Ping-Pong in der Datenverarbeitung, als Seins- und Wirklichkeitsmetapher jedoch reißt die Kippfigur einen Abgrund auf, drohen wir im Kippmoment in einen Riss zwischen den Bedeutungen zu fallen. Die „Körperwechsler“ tragen die Symbolik dieses Zeichens in sich, und sie produzieren eine Erzählung von unwahrscheinlichen, wegkippenden, gespaltenen Körpern. Sie wecken unsere kindliche Spiel- und Assoziationslust und sind dabei geeignet, dem Betrachter einen psychosomatischen Befund zu erstellen.

Der aktive Betrachter – und um ihn geht es Volker Saul – füllt die offene Form, um sie lesbar zu machen, und steht ratlos, belustigt oder bestürzt vor der Ambivalenz des „Körperwechslers“ – je nach Durchlässigkeit und Verdrängungsbedarf bei den eigenen Projektionen. So nachdrücklich die Linie gesetzt ist, so offen funktioniert die reduzierte Form als Projektionsfläche (in diesem Sinne gleichen die Körperwechsler einem Rorschach-Test). Wir sehen uns selbst, aber erkennen wir uns wieder in diesem eigen-artigen Bild/Wesen/Körper/Zustand? Das eines, aber auch zwei ist? Ein doppeltes, ein gespaltenes, ein aufgelöstes Ich? Gar kein Ich? Die Grenzen einer „Person“ in gesellschaftlich akzeptablem Sinne markiert die Linie offensichtlich nicht. Gesichert scheint nicht mal, ob die organische Form menschlichen oder tierischen Körpern näher ist. Mutationen, Urwesen, Metamorphosen, fixierte Zwischenzustände einer sich selbst organisierenden (auflösenden?) Existenz, im Werden fixiert. Comic-hafte Assoziationen eignen ihnen, und das Komische kann blitzschnell in Bedrohung umschlagen, wo wir ungewohnte Form als Deformation lesen. Zweifellos hat der „Körperwechsler“ allerlei virtuelle Verwandte im Cyberspace, die übrigens als Spielfigur in der Regel böser und gefährlicher Natur sind: In einen anderen Körper zu wechseln bedeutet hier kein Angriffsziel mehr (unsterblich) zu sein, um dann, getarnt in einem anderen Körper, umso effektiver zuschlagen (töten) zu können. Das „Böse“ ist nur eine Spielart: Im virtuellen Raum des Netzes, wo Identität eine fragwürdige Sache ist, realisieren und artikulieren sich sämtliche Sehnsüchte und Ängste, den eigenen Körper zu entsorgen, zu wechseln, mit anderen zu verschmelzen, aufzulösen; die Angst vor Zerfall und Verschwinden, Auflösung, Vernichtung. Im Diesseits des Cyberspace allerdings werden wir den Körper nicht los, muss das Geistige, das Seelische, muss Identität (auch gespaltene) sich in körperlich-seelischen Zuständen zwischen Hysterie und Depression behaupten. „Arbeiten ist Zustand“ – vielleicht darf man hinzufügen: ein anderer. Soviel zu den Projektionen der Autorin. Volker Sauls „Körperwechsler“ bleiben als neutrale Gestalt sie selbst, ihre Erzählung ist: Ich bin da.

Die Frage ist eher, ob wir da sind, und welchen Erzählungen wir Gehör schenken. Im Betrachten und Lesen der „Körperwechsler“ findet das fremde Eigene/eigene Fremde einen persönlichen Assoziations- und Deutungsraum, und sie öffnen zugleich einen weiteren Horizont. Die Frage, wer oder was oder wie viele wir sind und wie wir das geregelt bekommen, ist eine persönliche, zuweilen eine spielerische, zuweilen eine existenzielle. Sie ist eine Frage der Gattung in Zeiten nicht nur globaler Bedrohungen aller Art, sondern von Gentechnik, Virtualität, Neurophysik und stimmungsmachenden Substanzen für unterschiedliche „Seelenzustände“. So werden Volker Sauls Vexierbilder schließlich zum Suchbild „Mensch“. War es eine der Leistungen des Analytikers Freud (der hier nicht als Übervater, sondern nur ausnahmsweise zitiert sei), die Deutungsbedürftigkeit der menschlichen Natur zu erkennen und der individuellen Erzählung Aufmerksamkeit zu schenken, so könnte es heute notwendig sein, diesen narrativen Raum offen zu halten und das Nicht-Ausdefinierte unserer Existenz mit geeigneten ästhetischen Strategien zu verteidigen. Die Deutungshoheit, die Freud dem Analytiker vorbehielt, verbleibt bei Volker Sauls Arbeiten beim Betrachter. Sie zielen auf Durchlässigkeit, im Produktionsprozess wie beim Rezipienten. Und was ästhetische Praktiken betrifft, gilt folgendes Zitat von William James wohl für Psychoanalyse und Kunst ausnahmsweise gleichermaßen: „Durch die Art, wie er den Dingen Aufmerksamkeit schenkt, trifft jeder von uns eine Wahl, welche Art Welt es sein soll, in der er leben will.“